Stammbecken und Zungenbecken des Inngletschers

Eigentlich würde man erwarten, dass sich das Alpenvorland vom Gebirge weg nach Norden hin immer weiter absenkt. Und hätte es seine Entstehung nur Flüssen und ihren Ablagerungen zu verdanken, so wäre das auch der Fall. Nun liegt aber Rosenheim nur ca. 445 m hoch, wogegen die Hügel zwischen Ebersberg und Haag, viel weiter im Norden, Höhen von mehr als 600 m erreichen. Verantwortlich dafür ist der eiszeitliche Inngletscher.

 

Bei seinem Vorstoß ins Alpenvorland traf der Inngletscher, nachdem er das alpine Inntal mit seinen harten, widerstandsfähigen Gesteinen hinter sich gelassen hatte, auf die lockeren Ablagerungen der Vorlandmolasse. Sie sind Abtragungsschutt der Alpen, Kies, Sand und Ton, den Flüsse über Jahrmillionen ins Molassebecken, eine Senke zwischen Alpenrand und Donau, getragen haben. In diesen weichen Untergrund konnte sich der Gletscher tief eingraben, als er im Alpenvorland zu einem breiten Eisfächer auseinanderfloss.

Die Eisoberfläche des Inngletschers lag bei Kufstein auf 1700 m Höhe, beim Flintsbacher Gletscherschliff auf 1300 m, bei Rosenheim auf 900 m und sank zum Gletscherrand hin weiter ab. Seine größte Erosionsleistung erreichte das Eis im Bereich mit der höchsten Eismächtigkeit und Fließdynamik, also am Inntalausgang und im unmittelbar vorgelagerten Gebiet. Hier, vom Alpenrand bis über Schechen hinaus, wurde das Stammbecken des Gletschers, das Rosenheimer Becken, ausgeräumt. Dabei übertraf die Eintiefung noch weit das heute sichtbare Maß. So liegt westlich von Neubeuern der eiszeitliche Talboden des Rosenheimer Beckens 250 – 300 m unter der heutigen Landoberfläche. Erst nach dem Abschmelzen des Eises hat der Inn die tiefen Beckenbereiche mit Schotter und Seeton aufgefüllt.

Zum Außenrand des Gletschers hin nahmen Eismächtigkeit und Erosionskraft ab. In den Untergrund wurden nur noch einzelne Rinnen eingesenkt, die Zungenbecken, die wie abgespreizte Finger einer Hand radial vom Stammbecken ausgehen. Ihre Namen haben sie nach den heute darin verlaufenden Flüssen und Bächen erhalten, von West nach Ost Mangfall-, Glonn-, Moosach-, Attel-, Rettenbach-, Ebrach-, Laimbach-, Murn- und Simssee-Zungenbecken. Die Zungenbecken spiegeln eventuell eine interne Gliederung des Inngletschers in Teilgletscherzungen wider, die sich vom Eiszufluss aus großen Seitentälern wie dem Ötztal und Zillertal herleitet.

Das fließende Eis und Schmelzwasser transportierten das ausgeräumte Beckenmaterial zum Gletscherrand, wo es in hohen Endmoränenwällen und Schotterfeldern wieder abgelagert wurde. So formte der Vorlandgletscher seinen Untergrund zu einer weitgespannten Schüssel um, mit dem zentralen, alpenrandnahen Beckenbereich als tief liegendem Boden und dem umgebenden Endmoränengebiet als erhöhtem Rand. Eiszeitforscher haben dafür auch den schönen Begriff „Moränen-Amphitheater“ geprägt.

Durch die Tiefenerosion des Inngletschers im Alpenvorland mit der Ausräumung des Stammbeckens und der Zungenbecken entstand die besondere Reliefsituation mit nach innen ins Stammbecken orientiertem Gefälle. In der Rückschmelzphase des Gletschers nach dem Maximalstand wurde also immer tiefer liegendes Gelände eisfrei. Die Entwässerung gestaltete sich dadurch recht kompliziert (siehe: Entwässerungsbahnen des Inngletschers, Eisrand- und Stammbeckenseen des Inngletschers).

Dr. Johann Wierer